CV EXHIBITION WORK REVIEW KUNST AM BAU CATALOGUE CONTACT IMPRESSUM

 

 

Rolfunk 1-49
(Thomas W. Kuhn)


Im Jahr 1992 begann Sinisa Kandic im Rahmen seiner künstlerischen Tätigkeit mit einer intensiven und systematisch betriebenen Auseinandersetzung mit dem tradierten Konzept des abendländischen Tafelbildes, einerseits durch das Studium theoretischer Schriften und andererseits durch praktische Analysen, die zu Bild-ähnlichen Konstrukten führten. Seit 1994 entstanden charakteristische Arbeiten aus Glas, die für unterschiedliche Themen und Fragestellungen immer wieder neu adaptiert wurden. Das Grundmodell besteht aus zwei Scheiben klaren Mineralglases gleichen Formates, die mittels Aluminiumstäben auf gleichmäßigem Abstand gehalten und somit zu einer meist schmalen Vitrine kombiniert werden. Innenseitig wird diese Vitrine partiell ameliert, also farbig mit einer speziellen Sprühlackfarbe gefasst, die zu einem in sich homogenen und beständigen Farbauftrag führt. Kandic war zu dieser Verwendung von Glas durch die Beschäftigung mit dem Werk Giovanni Pisanos angeregt worden, der durch die Verwendung von blau hinterfangenem Glas in seinen Reliefs einen tiefenräumlichen Eindruck zu erzeugen suchte.


Eine frühe und konzeptuell Weg weisende Arbeit war "Giotto's Space" von 1994. Drei Farben bestimmen diese Arbeit, die mit Bedacht dem als Begründer des abendländischen Bildes geltenden Italieners gewidmet ist und der ein Zeitgenosse Giovanni Pisanos war: ein Rosa, das typisch für die Architekturdarstellungen Giottos ist, ein Blau, das den Himmel bezeichnet und ein Olivbraun, das signifikant für den Boden ist. Kandic hat sie ihrer unmittelbaren Gegenständlichkeit entkleidet, die Farben an sich aus den Bildern Giottos destilliert und so einer unmittelbaren Befragung hinsichtlich ihrer räumlichen Wirkung zugänglich gemacht. So gelangte er zu einer visuellen Formulierung, die einem Werk der konstruktiven konkreten Kunst nicht unähnlich ist.


Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Überlegungen zur Wirkung der künstlerischen Mittel führte entlang der Lektüre von Edmund Burkes Buch zur Theorie des Schönen und des Erhabenen und Johann Wolfgang von Goethes Farbenlehre zwischen 1994 und 1996 zur Grundidee von "Rolfunk 1-49". Die 49teilige Farbstudie mit quadratischen Vitrinen im Format 46 x 46 x 2,8 cm entstand nach Vorarbeiten in der Zeit von 1998 bis 2007 und findet ihren Abschluss mit der Ausstellung sämtlicher 49 Objekte in numerischer Abfolge im Museum Ritter.
Kandic griff in "Rolfunk 1-49" ein Problem auf, das Burke im Zusammenhang mit reinen intensiven Farben in der Malerei ansprach. Als schön erkannte Burke in der Malerei nur die Verwendung einer begrenzten Zahl gedämpfter Farben an. Klare intensive Farben könnten dem hingegen nur unter einer Ausnahme zum Eindruck von Schönheit führen: die Farben müssten in einer solchen Vielzahl in Erscheinung treten, dass sie im Auge des Betrachters zu einer nicht mehr differenzierbaren Einheit verschmelzen würden. Zudem beschäftigte sich Burke mit der Besonderheit transluzider, also lichtdurchlässiger Farbkörper, wie Flüssigkeiten und Glas und erläuterte hierbei das Wechselspiel von Licht und Farbe in ihrem Pendeln zwischen Reflektion und Leuchten. Das Prinzip der Vielzahl von Farben übertrug Kandic in immer wieder andere polyrhythmische Farbkombinationen horizontaler Farbstreifen auf den Innenseiten der Vitrinen. Aus einem Spektrum von 20 bis 26 Farben wurde die Auswahl getroffen, die sowohl harmonisch, als auch dissonant miteinander kombiniert wurden.


Die Ordnung selbst erscheint auf den ersten Blick völlig systematisch und einheitlich, aber schon die Varianz in der Zahl Farben, als auch der Streifen auf der vorderen Scheibe zwischen 29 und 32 bei jeweils 0,5 cm Breite und von 19 bis 21 Streifen bei jeweils 2 cm Breite deutet eine Flexibilität innerhalb des Systems an, die sich auf Grund ihrer Unterschwelligkeit der direkten Wahrnehmung entzieht.


Dieses absichtsvolle Zulassen einer Varianz in der Systematik versteht sich als eine Entscheidung gegen totale wissenschaftlicher Exaktheit. Hier folgt Kandic Goethe, der sich hinsichtlich der Wahrnehmung von Farben gegen das rational objektivere Farbsystem Newtons wandte, wobei Goethe einer Beschreibung der sinnlichen menschlichen Wahrnehmung deutlich näher kam. Die Eigendynamik menschlicher Wahrnehmung, die sich am objektiv Gegebenen vorbei entfaltet, zeigt sich im Falle der Rolfunk-Vitrinen bei der Wirkung der Farbstreifen auf das Auge. Schon bei kurzem Abstand verschmelzen die grafisch ausgeführten Farbstreifen zu einem malerischen Eindruck. Rein auf der Ebene der Wahrnehmung entsteht eine Unschärfe, die als phänomenologisch formulierter Zweifel an der Möglichkeit vollkommen rationaler Weltwahrnehmung erscheint.


Komplementär tritt zu dieser sinnlich fassbaren ästhetischen Studie eine weitere für die Serie konstitutive Schicht hinzu, die ihre materielle Produktion reflektiert. Mit der Vollendung der ersten Arbeit "Rolfunk 1/49" erfolgte der Anstoß für die Erstellung jeder weiteren Arbeit durch den Erwerb der Vorgängerarbeit für eine Sammlung. Während Kandic jeweils die Entscheidung oder Präferenz für eine immer wieder neue Ordnung der Farben traf, trafen die Sammler die Entscheidung für den Erwerb eines Werks dieser Serie. Diese Entscheidung des Sammlers bestätigt somit die Entscheidung des Künstlers zur Produktion der Arbeit in ihrer spezifischen Form und der performative Akt der Bestätigung durch den Erwerb generiert den Antrieb für den Künstler fortzufahren und das Gesamtwerk zur Vollendung zu bringen.
In der Folge partizipieren die Sammler an genau jener Gemeinschaft, die mit der Institution des Museums erst die Aufführung des Gesamtwerks ermöglicht. Nicht nur die 49 "Rolfunks" sondern auch ihre Eigentümer kommen in dem Projekt zusammen. Sie sind auf Grund der oben beschriebenen Produktionsweise der Serie, bis auf die erste Arbeit die Kandic im Selbstauftrag produzierte, kausal für ihr Entstehen mit verantwortlich.


Erst mit der Gesamtschau aller 49 Vitrinen werden nun die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Arbeiten sichtbar, veränderte Rhythmen, andere Farben und Konstellationen. Das im einzelnen Werk liegende Strukturprinzip der komplexen Vielzahl und Mannigfaltigkeit überträgt sich auf die Gesamtheit der Serie. So wie die diskreten Farbstreifen im einzelnen Bildkonstrukt in der Wahrnehmung verschmelzen, verbinden sich auch die 49 Tafeln zu einem Fries und heben die Einzelstudie in einer höheren Einheit auf.